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„Nehmen Sie (gefälligst) bitte Haltung an!“

Nehmen Sie (gefälligst) bitte Haltung an!

Was bewundern Sie an Menschen? Welche Attribute lassen Menschen auf Sie stark, selbstsicher und entscheidungsfreudig wirken?

In meiner Praxis begegne ich vielen Menschen, die unter mangelndem Selbstwert, Schüchternheit, fehlender Durchsetzungsfähigkeit leiden. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre eigenen Interessen ganz weit hintenanstellen, eher den anderen dienen und bewusst oder unbewusst darunter leiden. Ihr Denken, Fühlen und Handeln ist durch die Konditionierungen, die meist in den ersten Jahren ihres Lebens entstanden sind, dahingehend ausgelegt, eigene Bedürfnisse als unwichtig zu kategorisieren. Oft zeigt sich das in einem schwachen Lebensausdruck, Zurücknahme der eigenen Person, der eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Interessen. Ihre Haltung zu sich und der Welt ist „Alle anderen sind doch viel wichtiger, klüger, liebenswerter und interessanter als ich!“ oder „Mich sieht keiner und ich bin nichts wert!“

In unserer gemeinsamen Arbeit komme ich mit diesen Klienten sehr oft an den Punkt, an dem ich sie frage: „Welche Haltung haben Sie denn dazu?“ Hier ein Beispiel aus meinem Praxisalltag:

Mein Klient, Anfang 50, 3 Jahre jünger als seine Schwester, hat sich vor 4 Jahren aus seiner über 20-jährigen dysfunktionalen Ehe durch Trennung „befreit“. Die Kurse, die er im Zuge seiner Karriereausbildung vom Arbeitgeber durchlaufen hat, haben ihn schon seinerzeit zur Eigenreflektion animiert.  Sein Vater entstammt einer Industriellenfamilie, die im 2. Weltkrieg alles verloren hat. Dessen eigene konservative Erziehung und die Erlebnisse des Krieges haben den damals 40-jährigen Vater zu einem Patriarchen werden lassen, der durch seine unangenehme und penetrante Art immer „Seins“ durchgedrückt und gnadenlos eingefordert hat. Das preußische „Nehmen Sie gefälligstHaltung ein“, hat ihn vermutlich durch die Kriegswirren getragen. Mutter ist Hausfrau, als Kind traumatisiert durch den Bombenangriff auf Dresden, wurde früh manisch-depressiv mit schizophrenen Phasen. Eine Mutter zum Kuscheln, ansonsten bestanden ihre Antworten aus Phrasen. Sie war eher eine Hülle, als ein Leuchtturm. „Mutter gab mir keine Orientierung und war keine Stütze für mich“, beschreibt mein Klient. Der Verlust von Ansehen, Status und Besitz hat den Vater hart gemacht. Er lebte zwar seine Bedürfnisse für die „schönen Künste der Musik“ aus, verlangte seinen Kindern aber ab, seine nicht erreichten Ziele nun stellvertretend für ihn zu erreichen und gefälligst zu leben. Sicherlich agierte Vater unbewusst, dennoch entluden sich hieraus Druck und Unterwerfung für das Geschwisterpaar. Allein Oma und Tante waren liebevoll, zugewandt und bildeten für ihn den ausgleichenden Dreh- und Angelpunkt, an dem er sich, beschränkt auf die Ferien, wohl fühlte. Seine Schwester begann als junge Frau zu trinken, beschimpfte im Suff die ganze Familie am Telefon.  Probleme hat sie vor sich hergeschoben, wurde der Berg zu hoch, ist sie abgehauen, meist ins Ausland. Eines Tages kam sie schwanger zurück, ihre Tochter wurde von Ihren eigenen Eltern großgezogen.

Seine heutige Ex-Frau beschreibt er als dominant und rhetorisch gewandt, die stets alle Zügel in den Händen behält und sagt, wo es lang geht. Ihr Gebaren war für ihn andererseits auch etwas Gutes bzw. eine Stütze, so musste er sich Konflikten und Entscheidungen nicht selber stellen. Vielleicht der Leuchtturm, der Mutter nie war? Bei Auseinandersetzungen der Eheleute „stand der Gewinner jedoch schon vorher fest“, sagt er. Trotz väterlichem Druck und überzogenem Ehrgeiz war „Papa der Held und das Brain“. Mein Klient verinnerlichte den Leistungsdruck des Vaters, somit müssen alle ihm gestellten Aufgaben vollumfänglich und übererfolgreich erledigt werden. Wenn nicht, fühlt er sich als Versager und nimmt Schuld auf sich, bis zum heutigen Tage. Ein Grund, warum „er sich um sein eigenes Rudel gekümmert hat“, bis die Kinder aus dem Haus waren. Durchhalten und sich dafür zurücknehmen. Ein Muster, was er aus seiner Kindheit gut kannte. Auch als Harmoniesucht im „Volksmund“ bekannt. Aber nun, die Kinder aus dem Gröbsten raus, zeigt sich langsam die Erlaubnis, den eigenen und oft ambivalenten Gefühlen nachzuspüren und zaghaft zu erkennen, „Ich habe unendlich viele Kompromisse gemacht und weiß wenig über mich!“ Zunächst lässt er sich auf eine kurze Affäre ein, erste zaghafte Schritte den eigenen Bedürfnissen nach Liebe, Zärtlichkeit und Bestätigung nachzugehen. Diese ersten „Gehversuche“ bestätigen ihn, sich von seiner Frau zu trennen und selbständig zu leben. „Ich möchte meine eigenen Entscheidungen treffen“ ist damals dem Reifungsprozess entsprungen, den er durch das Coaching erfahren hat. In der Partnerschaft war dies für ihn genauso wenig möglich, wie in seiner Ursprungsfamilie. Die Wahl der Partnerin daher auch nicht ungewöhnlich, denn entweder gehen wir in die „Rebellion“ und entwickeln uns gegenläufig. Oder aber, wir eifern den gewohnten Mustern unserer Kindheit nach, kennen wir uns doch in dem „kleinen Elend“ bestens aus, sind somit vor Überraschungen und der notwendigen Individualisierung gefeit.

„Wer bin ich?“ „Was bin ich wert?“ „Wo gehöre ich hin?“ „Wo stehe ich?“

Diese Fragen stellen sich ihm nun, dass Ich-Bewusstsein meldet sich. Gut nachzuvollziehen, ist er die „Auseinandersetzung“ mit sich, seinem Leben und seinen Bedürfnissen bis dato nicht gewohnt. Mein Klient war stets im „Außen orientiert“.

„Geht es Mutter gut?“ war sein tägliches Barometer und hat dies für sich und sein Leben so interpretiert, dass es besser ist, ein „braves Kind“ zu sein.  „Sei still, bewegungslos und fall nicht (auch noch) zur Last!“. Aber genau das Gegenteil sollte Kindheit ausmachen: „Plappern, Singen, Hüpfen sowie Liebe, Aufmerksamkeit und Bedürfnisse einfordern.“

„Welche Erwartungen und Aufgaben hat Vater heute an mich?“ Kinder lieben und vertrauen ihren Eltern bedingungslos. Mein Klient interpretierte die patriarchische Erziehung seines Vaters so: „Nur wenn ich Vaters Erwartungen zu 100% erfülle, bin ich es wert, geliebt zu werden“. Was für ein Druck. Wie oft im Leben vermischen sich hier die Seins- und die Tuns-Ebenen auf dramatische und fatale Art und Weise. Für Leistungen können wir Anerkennung erhalten (Tuns-Ebene). Aber die Bestätigung unserer Selbst (Seins-Ebene) und die damit verbundene Liebe darf niemals an Handeln und Taten gemessen werden. Wir sollten immer um unserer Selbstwillen geliebt werden. Wie hier, entstehen Glaubenssätze wie „Ich bin nichts wert“, „Nur wenn ich perfekt bin, werde ich geliebt!“ oder gar „Sei nicht!“ Diese Glaubenssätze sind oft nicht im Bewusstsein, agieren aber kräftig aus dem Unterbewusstsein, durch den langen Arm aus der Vergangenheit, im heutigen Leben. Diese Glaubenssätze gilt es zu entlarven und zu entmachten. Wir können das gelebte Leben nicht ändern, aber sehr wohl können wir einen anderen Blickwinkel darauf einnehmen!

Mein Klient erzählt mir vom gemeinsamen Kaffeetrinken nach dem Scheidungstermin und dem gegenseitigen Versprechen freundschaftlichen Umgangs. Dennoch kontrolliert seine Ex-Frau die Familie auch weiterhin. Die Tochter, seit Jahren von der Mutter angepeitscht, dass Vater ja fremdgegangen ist, verwehrt ihm jeglichen Kontakt. Ist dies aber doch eine Sache zwischen den Eltern, die das eigene Kind nicht betrifft. Muss sie doch eigentlich keine Position beziehen oder sich gar für nur ein Elternteil entscheiden!  Anlässlich des Geburtstages des gemeinsamen Sohnes sind alle 4 auf der Feier zugegen. Wie üblich verweigert die Tochter die Kommunikation mit dem Vater, um sich eventuellen Konfrontationen zu entziehen. Nachdem sie und ihr Partner das Fest in der Wohnung der Mutter verlassen haben, wird ihm von seiner Ex-Frau ein Brief der Tochter vorgelesen. Überrascht und verunsichert zugleich, kann er sich nur grobe Inhalte merken. Er sei zwar der Form halber auf die baldige Hochzeit seiner Tochter eingeladen, es sei aber keinerlei direkter Kontakt vor, während und nach der Hochzeit „erlaubt“. Einladung aus purer Pflichterfüllung. Der Brief wird ihm nicht ausgehändigt. Anweisung erhalten!

Als er mir in unserem Coaching davon berichtet, habe ich ihn nur gefragt “Und was ist Deine Haltung dazu?“ …. Nachdenkliches Schweigen! „Ja, wie meine Haltung dazu, was meinst Du?“  Bei aller Individualisierung, die mein Klient in den 4 Jahren seit der Trennung wunderbar entwickelt hat, ist es ihm in dieser Situation nicht in den Sinn gekommen, hierzu eine Haltung einzunehmen. Er war in seine gewohnte unterwürfige und hinnehmend alte Rolle verfallen, die er aus der Kindheit und seiner Ehe gut kannte. Während unserer Sitzung kam ihm u.a. die Möglichkeit in den Sinn, er hätte das „sich vorlesen lassen“ auch ablehnen können! Nach dem Motto „Wenn meine Tochter mir etwas zu sagen hat, stehe ich gerne für ein persönliches Gespräch zur Verfügung!“…. „Ja, da hätte meine Ex-Frau aber ganz schön gestaunt, wenn ich ihr das gesagt hätte“ …. ein behagliches Lächeln zeigt sich auf seinen Lippen. Mit dieser Reaktion hätte er sich wohl gefühlt. Warum? Er hätte erwachsen auf das kindische, übergriffige und machtvolle Agieren seiner Ex-Frau reagiert. Sicherlich auch in Kauf nehmen müssend, dass das Mutter-Tochter-Duo erneut kindisch reagiert, aber beide sicherlich auch verwundert gewesen wären. Verwundert, weil Papa/Ex-Mann für sich und seine Interessen eintritt. Weil er nun agiert und nicht mehr reagiert! Weil er eine Haltung zu den Dingen entwickelt. Weil er eine Haltung zu seinem Leben entwickelt, diese kommuniziert und damit für sich eintritt. Das macht zufrieden und zaubert behagliches Lächeln auf die Lippen…. und, wenn sich einer in einem System (hier Familie) ändert, ändert sich das ganze System! 2 Vorteile, wie bleiben bei uns und stoßen Veränderung an!

Zurück zu den Fragen ganz am Anfang dieses Artikels. Was bewundern Sie an Menschen? Welche Attribute lassen Menschen für Sie stark, selbstsicher und entscheidungsfreudig wirken? Wir sympathisieren oft mit Menschen und wissen gar nicht so recht warum. Manchmal liegen Sie uns noch nicht mal so richtig, sind irgendwie anders oder gar komisch, aber dennoch fühlen wir uns wohl in ihrer Gegenwart. Oder wir schauen sympathisch bis bewundernswert auf Sie. Das aktuelle Söder-Phänomen!  Was ist es bloß, was uns anzieht? Bitte schaue Sie mal, ob dies vielleicht Menschen sind, die eine Haltung einnehmen, Entscheidungen treffen.  Unabhängig, ob der Inhalt Ihnen gefällt oder nicht. Vermutlich ist es die Haltung, die diese Menschen für sich, eine Situation, ein Thema beziehen. Auch ist es möglich, dass Sie auf Menschen wohlwollend schauen, die in Situationen ruhig und unaufgeregt bleiben, in denen Sie sich echauffieren (würden). Es ist auch eine Möglichkeit, sich dafür zu entscheiden, zu Themen keine Haltung einzunehmen, einfach, weil es uns nichts angeht oder weil es uns schlichtweg nicht interessiert. Sie entscheiden!

Nehmen Sie bitte Haltung an, beziehungsweise erlauben Sie sich eine Haltung zu den Dingen, die Ihnen in Ihrem Leben begegnen. Es gehört zur Individualisierung dazu und nur wenn wir diese Metamorphose durchlebt haben, können wir grundglücklich aus uns heraus leben, genießen und lieben. Auf dem Weg dahin begleite ich Sie sehr gerne, genauso wie meinen Klienten, der schon viel erreicht hat. Auch wenn er in dieser speziellen Situation in sein altes Verhaltensmuster zurück verfallen ist, weiß er aufgrund der vielen anderen Erfahrungen, die er schon gemeistert hat, dass er das schon kann. Darauf aufbauend, entwickelt er sich jeden Tag weiter, geht mit möglichen Rückschritten liebevoll, statt maßregelnd um. Er ist toll unterwegs und genießt sein neues – nun eigenes Leben – Tag für Tag.